Verletzlichkeit, Abhängigkeit, Traurigkeit – Eine Verteidigung

Verletzlichkeit, Abhängigkeit und Traurigkeit sind gemeinhin keine Begriffe, auf die wir uns positiv beziehen. Vielleicht denken wir an unsere Abhängigkeit gegenüber unseren Eltern, gegenüber Partner_innen, an finanzielle Abhängigkeiten und emotionale. Vielleicht denken wir an Liebeskummer, verletzende Erlebnisse, Abschiede, vielleicht auch an die Abhängigkeit von der Lohnarbeit, dem Chef, dem Jobcenter und anderen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass nicht alle Menschen gleichermaßen beispielsweise von Abhängigkeit betroffen sind. So sind Menschen mit einer Behinderung, die auf die Hilfe anderer angewiesen sind, ungleich abhängiger als diejenigen, die sich „normal“ bewegen können. Frauen*, die im Durchschnitt weniger verdienen als Männer* und die die Zuständigkeit für eventuelle Kinder zugewiesen bekommen, mit denen sie im Falle einer Trennung wahrscheinlich alleine bleiben, haben es im Vergleich zu Männern deutlich schwerer, sich aus einer Beziehung zu lösen. Diese Abhängigkeit trägt dazu bei, dass sie eher von häuslicher und sexueller Gewalt betroffen sind und vor allem länger davon betroffen bleiben.

Es ließen sich noch zahlreiche andere Beispiele dafür finden, dass vor allem Verletzlichkeit und Abhängigkeit für viele Menschen bedeuten, gewalttätigem Verhalten schutzlos ausgeliefert zu sein bzw. anderweitig äußert schmerzhafte Erfahrungen machen zu müssen. Wenn ich mich nun also an einer Verteidigung von Verletzlichkeit, Abhängigkeit und Traurigkeit versuche, dann in vollem Bewusstsein darüber, dass ein positiver Bezug auf diese Begriffe eine privilegierte Stellung voraussetzt. Was diese Begriffe im schlimmsten Fall bedeuten können, darf ihre Verteidigung nicht verschweigen. Gleichzeitig wäre ebenso diejenige Haltung privilegiert, die stattdessen auf Autonomie pocht, Autonomie einfordert und dabei unterschlägt, wie sehr die Möglichkeiten, autonom zu agieren, von allerlei Faktoren abhängen. Für die Menschen, die finanziell unabhängig, „gesund“, vielleicht männlich, heterosexuell und weiß und damit nicht von Sexismus, Homophobie und Rassismus betroffen sind, ist es deutlich einfacher, Autonomie als Ideal zu vertreten, als für viele andere gesellschaftlich schlechter Situierte.

Ich schreibe diesen Text vor allem, weil ich einem solchen Ideal von Autonomie entgegenwirken möchte, wie es sich meines Erachtens zunehmend durchsetzt, gerade in polyamoren Szenen. Was ich darüber schreibe, ist nichts völlig Neues, teils baue ich einiges aus, was bereits in einigen meiner anderen Beiträge eine Rolle spielte, heißt wesentlich: Zentral ist für mich die Frage der Verantwortung für die eigenen Gefühle, daraus folgend die Frage nach dem Umgang mit Eifersucht und dem Charakter von Liebesbeziehungen. Wie schon zuletzt möchte ich die Diskurse, die in polyamoren Szenen eine Rolle spielen, dabei einbetten in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang, wiederum mit Rückgriffen auf die Kritische Theorie.

In der gegenwärtigen Gesellschaft treten die Menschen als vereinzelte Konkurrenzsubjekte gegeneinander an. Um in der Konkurrenz gegen andere bestehen zu können, vielleicht den begehrten Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu erhalten, nicht als erstes entlassen zu werden usw., sind sie darauf angewiesen, sich selbst zu optimieren, „lebenslang zu lernen“, ihre Stärken hervorzuheben und jegliche Schwäche zu verneinen. Von anderen allzu abhängig zu sein in einer Gesellschaft, die auf Konkurrenz basiert, muss unter solchen Umständen unbedingt verhindert werden. Das Bedürfnis nach Unabhängigkeit, Autonomie, hängt somit untrennbar mit den Forderungen zusammen, die die Gesellschaft an einen stellt. Zwar bleibt umfassende Autonomie unerreichbar, schon allein wegen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, und de facto sind wir in allen möglichen Belangen allzu ohnmächtig und von äußeren Einflüssen abhängig, aber diese Einsicht muss verdrängt werden, weil man sie sonst kaum aushielte. Zu schwerwiegend wäre die Kränkung, gerade nicht über sein Schicksal tatsächlich ausreichend selbst bestimmen zu können, und vielleicht bemüht man sich umso verzweifelter um Autonomie, desto mehr man ihre Unerreichbarkeit zu erahnen beginnt. All dies scheint auch in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen zunehmend eine Rolle zu spielen, eben gerade in polyamoren Szenen. Die häufig vorzufindende Individualisierung von Eifersucht, wonach man für seine Gefühle selbst verantwortlich und dementsprechend allein mit ihnen umgehen müsse, ist nichts anderes als die Forderung, sich und seine Gefühle von anderen unabhängig zu machen. Wo das romantische Liebesideal die Abhängigkeit zweier Liebender zu einer recht uneingeschränkt wünschenswerten verklärte (nicht ohne den anderen leben können), bemüht man sich heute zunehmend um die Abschaffung der gegenseitigen Abhängigkeit per se zugunsten gänzlich unabhängiger Individuen.

Ein Mensch aber, der ganz unabhängig sein möchte, wird solche Autonomie nur zum Preis wachsender Unverbindlichkeit in seinen zwischenmenschlichen Beziehungen erreichen können. Denn wer sich auf einen anderen Menschen einlässt, ihn an sich heranlässt, Gefühle für ihn entwickelt, wird damit auch immer emotional von ihm abhängig. Sein Wohlbefinden wird abhängig davon, wie es um seine Beziehung zu jenem anderen Menschen bestellt ist, ob man unbeschwert miteinander umgeht oder ob es ungelöste Konflikte gibt, ob er sich der Stabilität der Beziehung bewusst ist oder er um ihr Fortbestehen fürchtet. Eine Liebesbeziehung, eine Liebe ohne solche emotionalen Abhängigkeiten gibt es nicht. Das Ideal autonomer Individuen könnte nur dann jemals allumfassend verwirklicht werden, wenn Menschen in kühler Distanz zueinander erstarren.

Noch spezifischer zur Eifersucht. Eifersüchtig zu sein, ist keine Entscheidung, die man nach einiger Überlegung treffen oder auch nicht treffen kann. Sich mit seiner Eifersucht zu beschäftigen, ist sinnvoll und kann tatsächlich zu ihrer Reduzierung beitragen, aber es gibt keinen Knopf, mit dessen Hilfe sie sich einfach ausschalten ließe. Viele Gründe, aus denen wir eifersüchtig sind, entziehen sich unserem Bewusstsein, das reicht bis in die frühkindliche Psyche hinein und ihre Konflikte. Eifersucht ist ebenso abhängig von unseren früheren Erfahrungen in Beziehungen, natürlich auch von unserem Selbstwertgefühl. Dieses allerdings ist, wie leider viele Menschen in polyamoren Kreisen behaupten, eben keine bloße Privatsache, die vorwiegend selbst verschuldet ist und sich durch bloße Reflexion und eine andere Einstellung zu sich selbst einfach verändern ließe. Wir leben in einer Gesellschaft, die uns tagtäglich unsere Überflüssigkeit beweist. Wer eine Arbeit hat, muss oft um sie fürchten und weiß, dass viele andere sie ebenso gut und vielleicht sogar für weniger Lohn erledigen könnten und wer keine Arbeit hat, bekommt noch wesentlich unmittelbarer zu spüren, wie wenig er in einer Gesellschaft wert ist, die ihn als unnütz, unproduktiv erachtet. Ob wir liebenswerte Menschen sind, wofür wir uns begeistern und worüber wir uns ausgiebig ärgern können, was uns ausmacht, was wir gut können und wovor wir Angst haben, all dies ist von geringem Interesse in einer Gesellschaft, für die wir vorwiegend als ersetzbare Träger_innen von Arbeitskraft von Bedeutung sind. Wir begegnen ständig und überall Menschen, die gereizt sind, die sich nicht für uns interessieren, die uns ignorieren, wir gehören selbst zu diesen Menschen.

Dies ist die Kälte der Konkurrenzsubjekte, die von der Gesellschaft ständig um ihr Glück betrogen werden, die in entfremdeten und häufig prekären Arbeitsverhältnissen tätig sind, und die sich ständig nach einer Wärme sehnen, die sie doch überall recht vergeblich suchen. Unsere Leben sind, mit Adorno gesagt, beschädigt, wir selbst sind beschädigt, vernarbt, selbst wenn uns unsere Verletzungen meistens ebenso wenig bewusst sind wie unsere Mühen, die notwendig sind, damit wir überhaupt fortwährend funktionieren können. Aber die „meisten Menschen geben vor, für sich selbst auch, dass sie glücklich sind, weil nämlich, wenn man unglücklich ist […] dann ist man ein Misserfolg. So muss man also die Maske des Zufriedenseins, des Glücklichseins tragen, denn sonst verliert man den Kredit auf dem Markt, dann ist man ja kein normaler Mensch, kein tüchtiger Mensch.“(1) Kein tüchtiger Mensch deshalb, weil man offenbar daran gescheitert ist, sich sein Glück selbst zu organisieren, also tatsächlich autonom zu sein. „Die Ermahnung zur happiness“ aber, schreibt Adorno, „in der der wissenschaftlich lebemännische Sanatoriumsdirektor mit den nervösen Propagandachefs der Vergnügungsindustrie übereinstimmt, trägt die Züge des wütenden Vaters, der die Kinder anbrüllt, weil sie nicht jubelnd die Treppe hinunterstürzen, wenn er mißlaunisch aus dem Geschäft nach Hause kommt. Es gehört zum Mechanismus der Herrschaft, die Erkenntnis des Leidens, das sie produziert, zu verbieten, und ein gerader Weg führt vom Evangelium der Lebensfreude zur Errichtung von Menschenschlachthäusern so weit hinten in Polen, daß jeder der eigenen Volksgenossen sich einreden kann, er höre die Schmerzensschreie nicht. Das ist das Schema der ungestörten Genußfähigkeit.“(2)

Von den Menschen heute wird erwartet, bzw. erwarten sie das selbst, dass sie ein glückliches, möglichst aufregendes Leben führen und sie schämen sich, wenn ihnen dies nicht gelingt, weil sie sich selbst dafür verantwortlich machen. In der Gesellschaft herrscht daher das Bild vor, auch zum Zwecke ihrer eigenen Legitimation, dass die Menschen im Grunde glücklich seien. Meiner Lebensrealität und der der meisten Menschen um mich herum entspricht dies nicht. Ich scheitere immer wieder in ganz vielen Situationen, bin überfordert, fühle Verletzungen oder mich einsam und empfinde nur einen kleinen Teil des Glücks, das ich gerne empfinden würde. Vielen Menschen um mich herum, gerade den besonders sensiblen und daher liebenswürdigen, geht es nicht besonders gut, manche besuchen eine Therapie, nehmen Antidepressiva, finden andere Strategien, mit bestimmten Gefühlen umzugehen. Und immer wieder passiert es, dass ich überrascht bin, weil es auch Menschen, die ich eigentlich als relativ stabil und glücklich wahrgenommen habe, offenbar doch wesentlich schlechter geht als ich das ursprünglich annahm. Und dies alles betrifft ja nicht nur mich und meine Freund_innen, sondern es gibt zahlreiche Statistiken, wonach in der Gesellschaft immer mehr Menschen an Depressionen leiden, Burn Out haben usw. Wir können in dieser Gesellschaft nicht funktionieren ohne Beschädigungen und doch schweigen wir meistens darüber.

„Je weniger sich der Einzelne der Erfahrung verschließt, desto ambivalenter muss sein Verhältnis zur Welt werden, Gefühlen von tief empfundener Abwehr, Abscheu, Wut und Ohnmacht wird er sich kaum erwehren können. Wer sich der Welt, wie sie ist, öffnet, den quält sie leibhaftig, denn sie ist das Leibhaftige. Wer sich aber angesichts dessen verschließt und das Leiden verdrängt, verkümmert in der unmittelbaren Anpassung an die herrschende Feindseligkeit jeder individuellen Regung gegenüber, er wird überhaupt nichts mehr tief empfinden, von nichts mehr leidenschaftlich berührt werden. Angesichts dieses Konflikts wird allgemein vorgezogen, sich anzupassen. Der tatsächliche Verlust und der Mangel an Wärme, Zuneigung, Achtsamkeit, Leidenschaft und Empfindsamkeit im Allgemeinen, der so tief in das Besondere einschlägt und ihm seine Gestalt gibt, bildet die Grundlage für eine Trauer, die im wahrsten Sinne das Herz zerreißt.“(3)

Ich unternehme nun den Versuch, zum Ausgangspunkt zurückzukehren. Wir wünschen uns, dass wir unabhängig, glücklich, unverletzlich sind, weil dies leichter wäre, aber wir sind es nicht. Unsere Abhängigkeit, Verletzlichkeit und Traurigkeit zu leugnen, bedeutet sie zu tabuisieren, sie unsichtbar zu machen und sich im Hartsein zu üben. Liebe bestünde darin, solchen Gefühlen einen Raum zu geben, also gerade nicht wie überall sonst Autonomie und Eigenverantwortlichkeit zu fordern, sondern stattdessen den Menschen, die wir lieben, ihre Abhängigkeit, Verletzlichkeit und Traurigkeit zuzugestehen. Ihnen gegenüber im Rahmen unserer Möglichkeiten nachsichtig zu sein, wenn sie mit etwas überfordert sind, wenn sie an sich zweifeln. Ich muss nicht alles alleine schaffen, nicht alles im Griff haben, inklusive meiner Gefühle. Ich muss nicht immer souverän und selbstbewusst sein, nicht immer alles können, und ihr müsst das auch nicht.

(1) Erich Fromm: https://www.youtube.com/watch?v=AAbKIvpALmg

(2) Theodor W. Adorno: Aufforderung zum Tanz, Minima Moralia, http://www.copyriot.com/sinistra/reading/agnado/minima.html

(3) Bettina Fellmann: Verteidigung der Traurigkeit, zweifelunddiskurs.blogsport.de/images/vdt.pdf

5 Gedanken zu “Verletzlichkeit, Abhängigkeit, Traurigkeit – Eine Verteidigung

  1. Selbstoptimierung ist unserer Gesellschaft eingeschrieben. Schon in Deinen letzten Artikeln hast Du vortreffliche und (für die „Szene“) streitbare Punkte angesprochen. Ich fühle mich zwar auf der einen Seite dem Polyamoren verbunden, weil ich nicht exklusiv und in Schubladen empfinde. Als ich dann aus Neugier zu einem polyamoren Stammtisch ging, war ich ziemlich geschockt. Die Männer erschienen mir so schematisch, irgendwie unbeteiligt, distanziert, wenig lebendig. Man(n) sprach über Tantra und Workshops und wie man das so mit seiner Partnerin lebt. Aber ich habe nichts gespürt. Es war kalt, maskenhaft. Mag Zufall gewesen sein, aber ich fand das krass. Auch all dieser Definitionszwang, wer/was sind wir und sind wir nicht (was ist hier jetzt richtig oder akzeptiert, für was bekomme ich „Punkte“). Im Bereich des Coachings und Selbstoptimierens gibt es viel, weil es scheinbar einen großen Bedarf, eine Leere zu füllen gilt. Einer der wenigen Ansätze, die für mich Bestand haben, ist der der RADICAL HONESTY (Brad Blanton). Alles andere erscheint mir inzwischen Schi-Schi, Scheinbeschäftigung. Das Zeigen von und Stehen zu Verletzlichkeit ist eine Form von radikaler Ehrlichkeit. Gerade gibt es eine Videoserie von ihm, die ich nur empfehlen kann: „Sometimes I pretend“ – http://radicalhonestyworkshop.com/video1-pretend/ – da musste ich eben dran denken, als ich Deinen Artikel noch mal gelesen habe. Danke Dir, dass Du Deine Gedanken mit uns teilst.

    Like

  2. Hallo,
    ich kann fast alles in diesem Artikel so unterschreiben, allerdings finde ich nicht, dass man Eifersucht nicht komplett verlieren kann! Man kann seine Eifersucht irgendwann komplett ablegen, sofern man genügend an seiner eigenen Persönlichkeit gearbeitet hat und innerlich gereift ist.
    Auf jeden Fall hoffe ich, dass Leute, die sich in einer Beziehung abhängig fühlen, sich endlich da raus lösen können.

    Lieben Gruß, Jesco

    Like

  3. hi.

    ich danke dir für diesen und auch deine anderen texte. ich finde sie sehr berührend und wahrhaftig. sie helfen mir sehr, in einer schwierigen lebenslage, meine gedanken und gefühle zu ordnen.

    grüße!

    Like

Hinterlasse einen Kommentar