Zum "Fremdgehen"

Da man in offenen Beziehungen auch mit anderen Menschen schlafen darf, gibt es in ihnen kein Fremdgehen mehr, wie man es aus monogamen Beziehungen kennt. „Treue“ wird hier meist, der Wortverwandtschaft entsprechend, als Vertrauen und Verbindlichkeit definiert, nicht aber als sexuelle Ausschließlichkeit. In diesem Eintrag soll es aber nicht um die Treuevorstellung in offenen Beziehungen gehen, sondern um die Bewertung des „Fremdgehens“ in monogamen.

Zunächst kann festgestellt werden, dass es für die meisten Menschen kaum eine größere Beziehungskrise geben kann als die, die durch einen „Seitensprung“ ausgelöst wird. Wobei mir diese Kausalitätskette eigentlich schon widerstrebt. Denn nicht der „Seitensprung“ löst die Krise aus, sondern unsere Art, ihn zu bewerten. Für die meisten Menschen ist es selbstverständlich, dass ein Bruch mit der sexuellen Ausschließlichkeit nicht hingenommen werden kann, dass letztere heilig sei. Das hängt sehr stark mit der weit verbreiteten Vorstellung von Liebe zusammen, wonach man ja niemand anderen mehr „brauche“, wenn man „den Richtigen“ oder „die Richtige“ erst einmal gefunden habe, wonach also jedes Interesse an einem anderen Menschen, sei es Liebe oder sexuelle Anziehung, auf ein Defizit innerhalb der bestehenden Beziehung hindeute. (In Widerspruch dazu: Die meisten Frauen und Männer, die fremdgehen, lieben ihren Partner) Und deshalb, weil nach dieser Logik jeder andere sexuelle Kontakt zugleich als Abwertung der eigenen Person verstanden wird, beharren die meisten Menschen auf sexuelle Ausschließlichkeit.

Wer versteht, wie sehr die meisten Menschen in einem Bruch mit jener Exklusivität einen Angriff auf sich selbst sehen, kann vielleicht auch ihre teils äußerst heftigen Reaktionen darauf zumindest nachvollziehen. Daraus folgt auch, dass sich die Betrogenen meist uneingeschränkt ins Recht setzen und sich dabei auch des Verständnisses der Gesellschaft sicher sein können, während die Meinung über jene, die mit der sexuellen Exklusivität gebrochen haben, schlechter kaum sein könnte. Nicht selten wird ihnen vorgeworfen, beziehungsunfähig oder primitiv triebhaft zu sein, und nicht selten werden sie als „Schlampen“, „Arschlöcher“ oder was auch immer tituliert. Ihre Abkehr von der gesellschaftlichen Normalität, die sexuelle Ausschließlichkeit vorsieht, wird ihnen angelastet als persönliche Charakterschwäche, die es zu verändern gelte.

Nun will ich gar nicht in Abrede stellen, wie weh es tun kann, wenn man belogen wird, und ich will auch gewiss nicht dafür eintreten, dem anderen die Unwahrheit zu sagen. Mir liegt ungemein viel an Ehrlichkeit, die ich auch als Grundvoraussetzung für offene Beziehungen ansehe, und dieses Streben nach Aufrichtigkeit ist mit jenen „Seitensprüngen“, die ja heimlich stattfinden, unvereinbar.

Allerdings halte ich nichts vom moralischen Zeigefinger und nichts vom Vorwurf, jene Untreuen seien wohl zur Liebe nicht fähig, wenn sie sich nicht auf einen Menschen „festlegen“ könnten. Ich kritisiere am „Fremdgehen“ seine Heimlichkeit, aber nicht das Interesse an anderen Menschen als nur dem, mit dem man „zusammen“ ist. Fakt ist für mich: An diesem Interesse ist nichts verwerflich. Es ist auch nicht Ausdruck eines Mangels, also nicht Ausdruck dessen, dass der andere Mensch einem nicht „genüge“. Wir alle empfinden Sympathie für mehrere Menschen, ohne dass das den einzelnen Menschen abwerten würde, und ebenso können wir für mehrere Menschen Liebe und sexuelles Verlangen fühlen, ohne dass deshalb die Aufrichtigkeit unserer Gefühle gegenüber dem Einzelnen infrage gestellt werden müssten. Und es geht auch nicht darum, ob man unbedingt jemanden „brauche“ – in dieser Aussage steckt doch bereits pure Lieblosigkeit: Als wären Menschen wie Kühlschränke, von denen einer im Haus ja genüge.

Dass der Sex mit dem einen Menschen absolut wundervoll sein kann und man sich vielleicht „dennoch“ auch für andere Menschen interessiert, wird hierbei völlig außer Acht gelassen. Was mit einem Menschen schön ist, kann auch mit einem anderen Menschen schön sein: Dabei muss es nicht um das Ausgleichen irgendwelcher Defizite gehen. Auch wenn es tatsächlich Situationen gibt, in denen mir der Bruch mit der sexuellen Ausschließlichkeit deshalb sinnvoll erscheint, weil sich Bedürfnisse zu sehr unterscheiden: Wenn zum Beispiel in einer Beziehung ein Mensch gar keinen Sex möchte oder einfach bestimmte Bedürfnisse des anderen wie beispielsweise dem nach BDSM nicht teilt, kann eine Öffnung nach ‚Außen‘ auch für die Beziehung eine große Entlastung darstellen. Mehr dazu schrieb ich schon in meinem Eintrag über Sexualität und offene Beziehungen.

Grundsätzlich würde ich es schön finden, wenn Menschen am Anfang ihrer Beziehung offen und ohne Vorurteile ganz selbstverständlich darüber reden würden, ob sie eine sexuelle Exklusivität vereinbaren möchten oder nicht. Wollen sie eine, sollte man sich meiner Meinung nach daran halten, oder aber man spricht das Thema nochmal an, wenn die eigenen Bedürfnisse sich geändert haben, man jene Exklusivität also nicht mehr möchte. Und auch das sollte möglich sein, ohne einander die möglicherweise nun unterschiedlichen Bedürfnisse zum Vorwurf zu machen. Ziel wäre in diesem Moment festzustellen, ob man an die gemeinsame Beziehung Erwartungen hat, die man unter einen Hut bekommen kann, oder ob die Beziehung so vielleicht auch nicht fortbestehen kann, weil der eine Mensch nicht auf die Exklusivität und der andere Mensch nicht auf die Nicht-Exklusivität verzichten will.

Nun entscheiden sich aber viele Menschen eben für die Heimlichkeit, weil sie sowohl sich für andere Menschen interessieren und sie diesem Interesse nachgehen wollen, sie aber auch nicht den anderen Menschen verlieren möchten, den sie lieben. Letzteres geschähe womöglich, wenn sie mit ihm über die eigenen Bedürfnisse offen reden würden. In diesem Fall geraten Menschen in ein ziemliches Dilemma, was es mich nachvollziehen lässt, warum Menschen „fremdgehen“. Ich will es nicht begrüßen, weil ich ja Offenheit anstrebe, aber ich weiß um die Schwierigkeit jener Offenheit, wenn man in diesem Moment um den Bestand seiner Beziehung fürchten muss.

„Fremdgehen“ ist außerdem eine Möglichkeit, selbst sich an keine Exklusivität halten zu müssen, den anderen aber dennoch „nur für sich“ beanspruchen zu können. Denn mit dem anderen offen über die Möglichkeit einer Nicht-Exklusivität zu sprechen, hieße ja auch, diese Nicht-Exklusivität auch ihm zuzugestehen. Ursächlich ist hier also vor allem die Eifersucht desjenigen, der fremdgeht. Er könnte womöglich in einer nicht-exklusiven Beziehung leben, wenn er das anspräche, will es aber nicht ansprechen, weil er den anderen weiterhin auf die Exklusivität festlegen möchte, selbst wenn er selbst sich heimlich daran nicht mehr halten will. In diesem Fall wäre es sinnvoll, würde er sich mit seiner eigenen Eifersucht auseinandersetzen, um so eine Beziehung zu ermöglichen, die seine Bedürfnisse berücksichtigt und dennoch ehrlich ist.

Alles in allem: In einer mehrheitlich monogamen Gesellschaft, mit dem eigenen Bedürfnis nach Nicht-Monogamie umzugehen, ist gar nicht so leicht. Deshalb gehen die meisten Menschen diesem Bedürfnis einfach heimlich nach, um eine Konfrontation zu vermeiden, die sie womöglich ihre Beziehung kosten würde. Ich kann hier keine Ratgeberliteratur schreiben, wie man mit solchen Situationen am Besten umgehe, weil ich mir der Vielschichtigkeit des Konflikts bewusst bin, aber ich plädiere dennoch für zweierlei: Zum einen dafür, dass in dem Bedürfnis nach Nicht-Exklusivität ganz schlicht ein anderes Bedürfnis gesehen wird, das nicht schlechter oder „primitiver“ ist als das nach Exklusivität. Dass also ein Klima entsteht, in dem man auch darüber offen reden kann, ohne sich gleich Aggressionen ausgesetzt zu sehen. Zum anderen plädiere ich für die Offenheit, so schwer sie einem manchmal auch fallen mag, auch Bedürfnisse zu kommunizieren, die von denen des anderen vielleicht abweichen. Selbst wenn das die Beziehung in eine Krise stürzen kann, die sie vielleicht auch nicht übersteht. Ich kann es nachvollziehen, dass Menschen „fremdgehen“, halte aber Ehrlichkeit für viel zu wichtig, als dass man sie einfach so aufgeben könnte.

Allgemein fänd ichs einfach schön, wenn mehr Menschen über die Selbsverständlichkeit sexueller Exklusivität nachdenken würden. Weil sexueller Kontakt zu noch anderen Menschen eben nicht die bestehende Beziehung abwertet und sie an sich auch gar nicht weiter beeinflusst, was vor allem die vielen „Seitensprünge“ zeigen, die jahrelang oder gar für immer unbemerkt bleiben. Die negative Bedeutung erhalten sie meist erst dadurch, dass sie negativ bewertet und vielleicht sogar zum Trennungsgrund werden. Ein Ansatzpunkt ist daher der, über unsere Interpretation von „Seitensprüngen“ nachzudenken und die Selbstverständlichkeit, dass sie verwerflich seien und unterbunden werden müssten, infrage zu stellen.

3 Gedanken zu “Zum "Fremdgehen"

  1. Ein sehr schöner Artikel!
    Ich fände es ebenfalls schön, wenn Monogamie nicht so selbstverständlich wäre, sondern man sich am Anfang der Beziehung damit auseinandersetzt, wie diese in Hinsicht sexueller Exklusivität aussehen soll. Verschiedene Menschen haben nun einmal verschiedene Bedürfnisse.

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  2. Danke für deine Rückmeldung. : )

    Mit der Enttabuisierung des Bedürfnisses nach Nicht-Exklusivität wäre schon sehr viel gegen das (heimliche) „Fremdgehen“ getan. Zwar wird es immer auch Menschen geben, die dem anderen dann das sagen, was er hören will, und heimlich doch etwas anderes machen, aber die vermeintliche moralische Überlegenheit der exklusiven Zweierbeziehung zu hinterfragen, ist nichtsdestotrotz ein meiner Meinung nach wichtiger Schritt.

    lieben Gruß,
    momo

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